Sehen verstehen und „Orte, wo man schaut“

Theater kommen im späten 6. Jh. v. u. Z. als eigene Bauten auf und gehören im Verlauf der Antike, besonders ab dem 4. Jh. v. u. Z., immer mehr zur Standardausstattung in vielen Städten. Dabei zeigt schon die Bezeichnung als „Theater“ ihre Verbindung zum Sehen. Denn das altgriechische Wort θέατρον (théatron) bedeutet wörtlich „Ort, wo man schaut“.

Euklid war als Mathematiker etwa 300 v. u. Z. in Alexandria in Ägypten tätig. Mehr ist uns über sein Leben auch kaum bekannt. Eine seiner Schriften ist die Optik. Dieser Text umfasst etwa 10.000 Wörter mit begleitenden Diagrammen, also ca. 30 DIN-A4-Seiten. Euklid setzt sich darin mit dem Sehen, insbesondere dem Gegensatz zwischen Realität und Wahrnehmung, auseinander.

Dabei ist sein Verständnis vom subjektiven Sehen gar nicht selbstverständlich, sondern Teil einer länger andauernden Entwicklung.

Euklids Optik – Realität vs. Wahrnehmung

Obwohl Euklid in seinem Werk unterschiedliche Themen behandelt, verbindet sie der Gegensatz zwischen Realität und Wahrnehmung.
Parallele Linien, z. B. einer Straße, laufen in der Ferne scheinbar zusammen, obwohl sich ihr Abstand zueinander, also die Straßenbreite, nicht verändert. Heute kennen wir dieses Phänomen als Fluchtpunktperspektive.
Auch aufeinander folgende, gleiche Abstände erscheinen aus größerer Entfernung betrachtet kleiner. Das ist z. B. bei Säulenreihen so, bei denen sich der Abstand zwischen den Säulen in der Realität nicht verändert, wir die Säulen in der Ferne aber mit einem immer kleineren Abstand zueinander wahrnehmen.
Euklid arbeitet dabei nicht direkt mit einer Straße oder einer Säulenhalle, sondern abstrahiert diese Beobachtungen in geometrische Beweise.

  • Eine Straße mit Säulenkolonnade im antiken Gerasa, Jordanien.

  • Diagramm aus Euklids Optik. K steht für das Auge des Betrachters.

  • Diagramm aus Euklids Optik. K steht für das Auge des Betrachters.

Im Auge des Betrachters

Wie gut die Sichtbarkeit in Theatern tatsächlich für den Einzelnen funktioniert hat, können wir z. B. über die Analyse von Sichtfeldern erforschen. Unser Sichtfeld mit beiden Augen beträgt etwa 120°. Wie Euklid können wir so mit „Sehstrahlen“ von einem Punkt ausgehend den Bereich konstruieren, der für den einzelnen Zuschauer sichtbar war. Außerdem lässt sich bestimmen, welcher Bereich im Theater am besten gesehen werden konnte: nämlich die Mitte der orchestra.

Theater wurden, vielleicht auch aufgrund der optimalen Sichtverhältnisse, nicht nur für Aufführungen genutzt. In ihnen fanden besonders ab dem 4. Jh. v. u. Z. unter anderem Volksversammlungen und Gerichtsprozesse statt. Dabei erfahren wir aus antiken Quellen, dass sich Redner manchmal „wie tragische Schauspieler“ inszenierten.

  • Blickfeld eines Zuschauers.

  • Sichtbarkeitsanalysen zeigen, wie gut einzelne Bereiche sichtbar sind.

Ausgrabung

  • „70 % aller Archäologen-Arbeit wird in der Bibliothek verrichtet.“ – Indiana Jones in Indiana Jones und der letzte Kreuzzug.

  • Für unsere aktuelle Forschung „graben“ wir uns vor allem durch Manuskripte und frühere Forschungsarbeiten.

  • Neben Forschungen in der Bibliothek ist die Arbeit im Feld unerlässlich, um z. B. bisher unbeachtete Aspekte zu untersuchen.

Sehen Heute

Das kann sich sehen lassen

Wir können also zeigen, dass sich sowohl die Idee des Sehens in der Antike verändert als auch die Art, wie städtische Architektur, zum Beispiel ein Theater, gebaut wird. Euklids Idee der Sehstrahlen nutzen wir auch heute noch. Forscher:innen können z. B. mit eye tracking untersuchen, was wir sehen und wo unsere Aufmerksamkeit liegt (rot). Das ist besonders in der Werbung wichtig. Die Grundlagen dafür, wie wir uns heute das Sehen vorstellen, hat Euklid also schon vor etwa 2.300 Jahren gelegt. Auch wenn wir heute ins Theater oder ins Fußballstadion gehen, profitieren wir von Entwicklungen, die vor ca. 2.500 Jahren begonnen haben, um Zuschauern eine optimale Sicht auf die Aufführungen zu ermöglichen.