Ausgrabungen im SFB 1266 mit Kolleg:innen aus Kiew und Chişinau zeigen neuartige, im Voraus geplante ringförmige Siedlungen mit Versammlungshäusern für Tausende Menschen. Die räumliche Konzeption dieser Siedlungen ist Ausdruck einer Weltanschauung, die an sozialer Gleichheit orientiert war.

Das Zusammenleben war attraktiv und hielt über 10 Generationen. Dann folgte der Zusammenbruch. Was war passiert? Die Bewohner:innen haben es verpasst, neue Entscheidungsstrukturen für eine wachsende Bevölkerung zu entwickeln.

6.000 Jahre alt, riesig und rund: eine kupferzeitliche „Reformsiedlung“

Seit dem Ende des 5. Jahrtausends v. u. Z. kamen Tausende Menschen in der ukrainischen Waldsteppe östlich der Karpaten zusammen und gründeten in zuvor fast unbewohnten Regionen riesige Siedlungen – nach einer zuerst entdeckten Fundstelle bei Kiew als „Trypillia“ bezeichnet. Die Orte, deren Bewohner:innen von Ackerbau und Viehzucht lebten, liegen heute unter mächtigen Schwarzerde-Böden begraben.

Die mehr als 2 km² große Stadt Maidanetske war ebenso wie andere benachbarte Megasiedlungen extrem attraktiv: Sie wuchs durch anhaltenden Zuzug ab 3.900 v. u. Z. immer weiter auf eine Bevölkerungsgröße von ca. 10.000 Einwohner:innen, bevor sie um 3.650 v. u. Z. innerhalb von 50 Jahren verlassen wurde.

  • Exkurs

    Wie mithilfe magnetischer Prospektion Vergangenes sichtbar gemacht wird


  • Foto der Durchführung einer magnetischen Prospektion mit einem Traktor gezogenen Magnetikwagen mit 6 Sonden.

    Für die Erforschung von Trypillia-Siedlungen hat vor allem die magnetische Prospektion eine herausragende Bedeutung, wobei ergänzend auch andere geophysikalische Methoden eingesetzt werden. Die magnetische Prospektion nutzt zwei Effekte: 1) Thermoremanente Magnetisierung, 2) Induzierte Magnetisierung


  • Ablauf der Entstehung thermoremanenter Magnetisierung.

    Thermoremanente Magnetisierung: Beim Abkühlen nach starker Erhitzung speichern bestimmte Materialien wie z. B. Lehm die Richtung des Erdmagnetfelds zum Zeitpunkt des Brandes. Derart ‚konservierte' Objekte können durch Messung im Vergleich zu ihrem nicht gebrannten Umfeld als magnetische Anomalien sichtbar gemacht werden.


  • Schematische Darstellung einer magnetischen Messung über einer überwachsenen Grube.

    Induzierte Magnetisierung: Die humusreichen Füllungen von Gruben und Gräben haben einen erhöhten Eisengehalt. Dies führt zu einer erhöhten Magnetisierung im Kontrast zu der Umgebung. Somit werden auch Gruben und Gräben durch Messungen abgebildet.


  • a) Magnetische Kartierung der Trypillia-Siedlung Maidanetske (Ukraine), b) auf Basis der Magnetik erstellte Interpretation der Siedlungsstruktur.

    Die Bodenzusammensetzung im Arbeitsgebiet und die Tatsache, dass die meisten Häuser verbrannt wurden, ermöglichen es die Pläne ganzer Siedlungen sichtbar zu machen. Früher als anderswo wurden manuelle magnetische Messungen bereits während der sowjetischen Ära im großen Stil eingesetzt. Heute erlauben motorisierte Messgeräte die Siedlungspläne in kurzer Zeit hochaufgelöst abzubilden.

„Megasiedlungen“ bestehen aus Resten Tausender verbrannter Häuser, die entlang konzentrischer Ringstraßen gebaut wurden. Die Siedlungspläne weisen erstaunliche Analogien zu neuzeitlichen Idealstädten und Reformsiedlungen auf, deren Konzeption häufig auf sozialreformerischen Ideen beruhte.

Auch den Gründer:innen von Trypillia-Siedlungen war soziale Gleichheit wichtig: Die ringförmige Struktur der Siedlungen sollte gleichberechtigten Zugang der Bewohner:innen zur Infrastruktur der Siedlung ermöglichen. Im öffentlichen Raum finden sich spezielle Versammlungshäuser – sogenannte Megastrukturen. Hier wurden Entscheidungen von der Nachbarschaft bis zur Gesamtsiedlung demokratisch verhandelt, wie es von nicht staatlichen Gesellschaften bekannt ist. Diese Bauten sind zentrale Orte des Miteinanders, in denen Entscheidungen getroffen, rituelle Handlungen ausgeführt, Feste gefeiert und Kinder erzogen wurden.

  • Quartier mit Versammlungshaus in der Megasiedlung Maidanetske.

Gebäudetypen...

Aktivitäten im Versammlungshaus halten die Gemeinschaft zusammen. Hier wird gemeinschaftlich gewebt, gemahlen, und gespeist, vor allem wurde sich aber ausgetauscht, diskutiert und entschieden.

...in Trypillia-Megasiedlungen

Jeder Wohnbau ist in unterschiedliche Aktivitätszonen unterteilt. Im ersten Stock wird im Vorraum Getreide entspelzt. Im Hauptraum gibt es einen Kuppelofen zum Kochen, einen Essbereich mit einer tischartigen Feuerstelle und einen Schlafplatz. An der Längswand sind verzierte Gefäße auf einem Lehmpodium aufgestellt.

  • Exkurs

    Trypillia Versammlungshäuser

  • In Trypillia-Kommunen sind Versammlungshäuser durch drei Merkmale definiert, die sich in Siedlungsplänen nachweisen lassen, die mit geophysikalischen und archäologischen Methoden erstellt werden. 1) Eine besondere, gut sichtbare Position im öffentlichen Raum von Siedlungen, 2) eine Architektur, die sie von Wohnhäusern unterscheidet und 3) eine außergewöhnliche Größe.

  • In den großen Siedlungen entspricht ihre Platzierung an kommunikativen „Knoten“ des öffentlichen Raumes einer dezentralen sozialen und politischen Organisation: Bestimmte Bevölkerungsgruppen – durch wirtschaftliche Allianzen, Nachbarschaften, Verwandtschaften oder Altersklassen zusammengehörige Gruppen – verbinden sich über Megastrukturen; im Ringkorridor, auf kleinen Plazas, in radialen Ringstraßen, außerhalb der Häuserringe.

  • Magnetische Prospektion und Überreste von Keramik, Mahlsteinen, Getreide, Tierknochen, Feuersteinklingen und Webgewichten zeigen, dass hier Zusammenkünfte stattfanden, um zu weben, Getreide zu mahlen und gemeinsam zu speisen. Nebenbei tauschte man sich – ganz ohne staatliche Zwänge – im Gespräch über die alltäglichen Probleme in der Megasiedlung aus und fällte demokratisch die notwendigen Entscheidungen.

  • Zwischen 4.300 und 3.650 v. u. Z. lassen sich fünf Entwicklungsschritte des Zusammenlebens identifizieren:

    1) kleine Kommunen mit zentraler Institution,
    2) Zusammenschluss der kleinen Kommunen zu großen Siedlungen mit zusätzlicher übergeordneter Institution,
    3) zunehmende Zentralisierung von Entscheidungsprozessen,
    4) Wegfall der dezentralen Institutionen,
    5) Zersplitterung der Bevölkerung in kleine Gruppen.

Ausgrabung

  • Übliche Reste der Häuser in Trypillia-Megasiedlungen sind eine verziegelte Plattform, Wände und Einrichtungsobjekte.

  • Vorsichtig legen die Archäolog:innen die Überreste der Häuser mit der Kelle frei.

  • Bevor der verziegelte Lehm entfernt werden kann, muss alles sorgsam dokumentiert und eingemessen werden.

  • Gruben sind wichtige archäologische Quellen, die gewöhnlichen Abfall oder Reste ritueller Mahlzeiten enthalten können.

  • Damit den Archäolog:innen nicht der kleinste Fund wie z. B. Spielsteine, Perlen und Knochen entgeht, wird der gesamte Abraum gesiebt.

Mega-siedlungen heute

Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles

„City of Quartz“ von Mike Davis ist eines der Hauptwerke der Stadtsoziologie. Die Tradition der sogenannten Chicagoer Schule der Soziologie schaut, welchen Einfluss unterschiedliche Akteure und soziale Gruppen auf die Stadtentwicklung nehmen. Die Großstadt Los Angeles wird darin beschrieben als das Resultat einer wechselhaften Geschichte mit ökonomischen Booms, externen Zuströmen von Menschen und Kapital, Krisen und Abwanderung, Gentrifizierung und der Entstehung von Widerstandsbewegungen. Dabei dient das Wachstum von Quarzkristallen als Metapher für die planerischen und chaotischen Komponenten dieser historischen Prozesse.